Dass im EU-System nicht alles zum Besten bestellt ist,
dass insbesondere schwerwiegende Demokratie-, bei gleichzeitigen
Effizienzproblemen vorhanden sind, soll nicht verschwiegen werden,
steht aber hier nicht zur Debatte (» zur
Diskussion des Demokratie- und Legitimationsdefizits). An dieser
Stelle soll es um die Frage gehen, woher das schlechte Image der EU
rührt.
"Nationale" Instrumentalisierung der EU
"Wenn die Sonne lacht, war's
der Mitgliedsstaat, bei Regen und Schnee war's die EG" - das Maß an Legenden und Vorurteilen lässt sich
unter anderem mit dem
Hinweis darauf erklären, dass die EU häufig als Sündenbock für
unliebsame Entscheidungen herhalten muss.
Klaus Hänsch, ehemaliger Präsident des Europäischen Parlaments, fand
drastische Worte für diesen Sachverhalt, als er ausführte, "dass es
schon ein Riesenerfolg wäre, wenn die Regierungen der Mitgliedstaaten
endlich aufhören würden, die Risiken der Politik auf die Union
abzuschieben und Erfolge zu nationalisieren. Wer in der Union nichts
weiter sehe als eine Deponie für nationalen Politikmüll, brauche sich
nicht zu wundern, dass sie den Menschen stinke." [1]
Anzumerken gilt es hier, dass dieses Phänomen in der Europaforschung
nicht nur als Sündenbock-Argument aus der Perspektive nationaler
Politik (und Machterhaltung) Beachtung findet. Insbesondere Klaus
Dieter Wolf hat mit Blick auf die Instrumentalisierung von "Regieren
jenseits des Nationalstaates" [2] herausgearbeitet,
"dass dieser Vorgang nicht als Paradox, Dilemma oder Betriebsunfall
verstanden werden muss, sondern sich als Ausdruck einer gezielten
Politik der Neuen Staatsräson deuten lässt."
Er weist darauf hin, dass sich Regierungen gezielt international
binden, nicht nur, um internationale Probleme effektiver bearbeiten zu
können, sondern auch, um "Autonomiespielräume gegenüber
zivilgesellschaftlichen Mitwirkungsansprüchen zu behaupten oder
wiederzuerlangen. Mit dem von ihnen zur Bändigung der Marktmacht
geschaffenen Instrument befreien sich die Regierungen auch von der
Umklammerung ihrer gesellschaftlichen Auftraggeber. Es kommt zu einer
Entdemokratisierung durch intergouvernementale Selbstbindung."
[3]
Ob man dieser Argumentation folgen will oder nicht, festzuhalten
bleibt, dass die Instrumentalisierung der EU zur "externen"
Rechtfertigung umstrittener Entscheidungen - wie die Vorgänge vor,
während und nach der Errichtung der Europäischen Währungsunion
exemplarisch veranschaulichen - einem positiven Europabild in der
Öffentlichkeit nicht förderlich sind, dafür aber der Legendenbildung
Vorschub leisten.
Dieser Faktor alleine reicht jedoch nicht aus, um Wissensdefizite, (daraus
resultierende) Legenden und Vorurteile plausibel zu machen. Hier spielen
die beiden entscheidenden Besonderheiten des EU-Systems - das Problem
der Komplexität
und das Problem der fehlenden Referenzebene für die Einordnung des EU-Systems
als eines Systems sui generis - die zentrale Rolle. Diesen
beiden Faktoren sind eigene Abschnitte im Rahmen dieses Durchgangs
durch wichtige Grundprobleme der EU-Vermittlung gewidmet:
» Komplexität als Grundproblem der
EU-Vermittlung
» fehlende Referenzebene als Grundproblem
der EU-Vermittlung
Folgeprobleme für die EU-Vermittlung
Dass wenig Vorwissen zum Gegenstand EU vorausgesetzt werden muss,
macht die Aufgabe der politischen Bildnerinnen nicht eben einfacher.
Dass dieses Vorwissen von zählebigen Legenden und Vorurteilen
durchsetzt ist, kommt erschwerend hinzu. Außerdem sind natürlich auch
die Lehrenden nicht gefeit vor der "Infektion" durch den "Sündenbock-Virus".
Ein Anknüpfen an vorhandenes Wissen ist natürlich trotzdem möglich,
zumal die Berichterstattung in den Medien in den letzten Jahren
deutlich zugenommen hat, stellt aber hohe Anforderungen an den
Lehrenden. [Seitenanfang]
Anmerkungen:
[1] |
Zitiert
nach Hartmut Hausmann, "Keine Deponie für nationalen Politikmüll";
in: Das Parlament 39/1996.
Ansätze einer systematisch wissenschaftlichen
Aufarbeitung dieser Thematik bietet folgender Aufsatz: COLIN
HAY/BEN ROSAMOND, Globalization, European integration and the
discursive construction of economic imperatives; in: Journal of
European Public Policy 9, 2/2002, S. 147-167.
Im Zuge der EU-Krise nach den "gescheiterten" Referenden zur
Verfassung in Frankreich und den Niederlanden fand das
"Sündenbock-Argument" immense Verbreitung. Zwei Beispiele von
vielen mögen zur Veranschaulichung genügen. So führt ALFRED
GROSSER in einem Interview (Stuttgarter Zeitung vom 4.6.05) aus:
"Es ist die Schuld der Medien, der Politiker, der Parteien, dass
nicht über die Zukunft Europas geredet wird. Oder wenn von den
Politikern in den einzelnen Staaten über Brüssel geredet wird,
dann muss die EU als Sündenbock für alle Arten von Problemen
herhalten. Frei nach dem Motto: das Gute kommt von uns, das
Schlechte aus Brüssel."
Der Fraktionschef der europäischen Sozialdemokraten, MARTIN
SCHULZ, wird mit den Worten zitiert (Stuttgarter Zeitung vom
9.6.05): "Wir haben jetzt die Quittung für all die Jahre bekommen,
in denen sich die Regierungen mit den Erfolgen der europäischen
Politik geschmückt haben und die Schuld an Fehlschlägen auf
Brüssel geschoben haben."
Zwischenzeitlich ist der "Sündenbock EU" zu einem Topos
geworden. Die Stuttgarter Zeitung hat ihm eine eigene Serie
gewidmet. In unregelmäßigen Abständen hat sie in 16 (!) Folgen
besonders abstruse Legenden über die EU zusammengetragen, die
einen nicht geringen Unterhaltungswert aufweisen. Im
einleitenden Artikel zu der Serie schreibt KNUT KROHN: "Jeder
kennt sie, die Traktorensitzverordnung oder die Regelung der
Gurkenkrümmung. Aber gibt es sie wirklich? Die Stuttgarter
Zeitung klärt in den nächsten Wochen über die größten Legenden
des Brüsseler Bürokratenwahns auf" (StZ vom 07.10.2005). Die
einzelnen Folgen beschäftigen sich mit folgenden Mythen:
07.10.2005 |
"Die Türkei wird nach
einem Beitritt die Europäische Union dominieren und
allen anderen ihren Willen aufzwingen." |
08.10.2005 |
"Die Regelungswut in
Brüssel macht alles gleich." |
15.10.2005 |
"Im Nachbarland Österreich
wird erzählt, EU-Vorschriften verbieten, dass
Österreicher bei Zeitungsgewinnspielen deutscher Medien
teilnehmen dürfen." |
18.10.2005 |
"Die EU plant, den
Geräuschpegel in britischen Pubs und Clubs zu limitieren." |
22.10.2005 |
"Die Euromünzen machen die
Menschen krank." |
24.10.2005 |
"Die Autofahrer Europas
müssen in Zukunft europaweit einheitliche Autonummern
ans Blech montieren." |
25.10.2005 |
"In Brüssel wird an der
Sturzhelmpflicht für Hochseilartisten und Trapezkünstler
gearbeitet." |
27.10.2005 |
"In Österreich geht die
Angst um, dass das Land mit der neuen Verfassung die
Zustimmung Deutschlands braucht, sollte es aus der EU
austreten wollen." |
28.10.2005 |
"Der Zehneuroschein macht
womöglich impotent." |
31.10.2005 |
"Die Europäische Union
beschließt, dass Konfitüre nicht mehr Marmelade heißen
darf." |
07.11.2005 |
"Die Europäische Union
verlangt, dass in Zukunft Spielzeug in Schweineställen
liegen muss, damit sich die Tiere ablenken können." |
10.11.2005 |
"Polizeiautos müssen in
Zukunft europaweit blau gestrichen sein, und
Krankenwagen fahren gelb durch die Gegend." |
14.11.2005 |
"Die Europäische Union
will die Londoner Haltestelle Waterloo Station in Europe
Station umbenennen." |
17.11.2005 |
"Die Europäische Union
ändert die Definition dessen, was eine Insel ist." |
05.12.2005 |
"EU-Bürokraten wollen
Schwalben aus den Kuhställen verbannen." |
07.12.2005 |
"Die Europäische Union
verbietet berühmte Werbeslogans." |
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|
[2] |
So
lautet der Titel einer grundlegenden Monographie:
Michael Zürn,
Regieren jenseits des Nationalstaates. Globalisierung und
Denationalisierung als Chance, Frankfurt/Main 1998.
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|
[3] |
Beide
Zitate aus: Klaus Dieter
Wolf, Die Neue Staatsräson - Zwischenstaatliche Kooperation
als Demokratieproblem in der Weltgesellschaft, Baden-Baden 2000,
S. 61.
Der folgende Aufsatz fasst die hier angeführte Argumentation
zusammen: Klaus Dieter
Wolf, Entdemokratisierung durch Selbstbindung in der
Europäischen Union; in: ders. (Hg.), Projekt Europa im Übergang?
Probleme, Modelle und Strategien des Regierens in der Europäischen
Union, Baden-Baden 1997, S. 271-294.
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