Schritt 1: Europaexperten an den Universitäten erforschen
unermüdlich ihren komplexen Gegenstand, präsentieren und
verfeinern ihre Ergebnisse auf Konferenzen gemeinsam mit der
scientific community, und scheuen sich nicht, von Zeit zu Zeit
auch über den Kreis der Fachkollegen hinaus als Multiplikatoren
tätig zu werden.
Schritt 2: Spätestens hier
kommen die Fachdidaktiker ins Spiel. Sie greifen die
Forschungsergebnisse auf und "didaktisieren" sie. Sie stellen das
Bindglied dar zu den Lehrerinnen und anderen Multiplikatoren und geben
diesen Konzepte und Ideen an die Hand, wie der komplexe Gegenstand in
der Praxis erfolgversprechend vermittelt werden kann. Hierzu können
sie auf einen beachtlichen Bestand an didaktischen Prinzipien
zurückgreifen, wie er sich in der fachdidaktischen Diskussion der
letzten Jahrzehnte herausgebildet hat (»
siehe Abschnitt "politische
Bildung").
Schritt 3: Am Ende der Wissensvermittlungskette stehen die
politischen Bildnerinnen, die Teilnehmern oder Schülerinnen Wissen
über die EU vermitteln sollen und dabei von beiden vorgelagerten
Ebenen profitieren. Werkstattgespräche der Bundeszentrale für
politische Bildung - wie das 9. Werkstattgespräch unter den Titel "Neue
Zugänge zu Europa im Politikunterricht" im Februar 2003, aus dem der
Sammelband hervorgegangen ist - stellen einen institutionellen Rahmen
für die Interaktion der Ebenen bereit.
Mangelnder Wissenstransfer
Die Realität sieht anders aus. Joachim Detjen kommt nach einer Analyse
verschiedener Schulbücher und Planspiele zu dem Schluss, dass sich die
untersuchten Medien zwar der Komplexität der EU bewusst seien. "Durchweg
fehlt allerdings die Charakterisierung der EU als eines verflochtenen
Mehrebenensystems. Das aber heißt, dass die politische Bildung den
politikwissenschaftlichen Erkenntnisstand bisher offensichtlich noch
nicht zur Kenntnis genommen hat." [1]
Woran mag das liegen? Zum einen ist auf die Grundprobleme der
EU-Vermittlung zu verweisen, wie sie in einem gesonderten Abschnitt
dieser Arbeit entlang der Kategorien Nationalstaats-Fixierung, Distanz,
Dynamik, Legenden, Komplexität und fehlende Referenzebene dargestellt
werden (» Probleme der EU-Vermittlung). Diese Probleme stellen sich
natürlich nicht nur für die Adressaten politischer Bildung, sondern
auch für die Fachdidaktik wie für die politischen Bildner.
Zum anderen muss sich aber auch die Fachwissenschaft den Vorwurf
mangelnder Transferleistungen gefallen lassen - und damit sind wir
mitten in der Diskussion von "Teil I: Fachwissenschaft" des
Sammelbandes "Europa verstehen lernen". Ein Rezensent bemerkt zu zwei
von drei Aufsätzen des fachwissenschaftlichen Teils:
"Alparslan Yenal und Wichard Woyke bieten überblicksartige
Darstellungen der 'Europäischen Integration' (Yenal) und der 'Wahlen
zum Europäischen Parlament' (Woyke), machen sich aber an keiner
einzigen Stelle die Mühe, auf die eigentlichen Fragestellungen dieses
Buches einzugehen, also Bezüge zum europapolitischen Lernprozess oder
Relevanzkriterien für inhaltliche Auswahlprozesse aufzuzeigen. Es muss
leider gesagt werden: 'Fachwissenschaft' präsentiert sich hier einmal
mehr durch die bloße Wiederholung von Grundlagenwissen über
Institutionen und Politikprozesse, über die anderweitig längst
genügend und leicht zugängliches Material vorliegt."
[2]
Tücken der Wissensvermittlungskette
Während diese "Wiederholung von Grundlagenwissen" im Falle Woykes
kompetent geschieht, offenbart der Beitrag von Yenal unübersehbare
inhaltliche Schwächen, die im folgenden durch ausgewählte Beispiele
tabellarisch veranschaulicht werden sollen, nicht zuletzt um
exemplarisch die Schwierigkeiten der Wissensvermittlungskette von der
Fachwissenschaft über die Fachdidaktik zu den politischen Bildnerinnen
aufzuzeigen. [3]
Zitat |
Kommentar |
"Die Europäische Integration: Ein
Integrationsprozess sui generis" (S. 18) |
"Sui generis"
dient als (Verlegenheits-) Bezeichnung zur Kennzeichnung des EU-Systems,
das in der Tat ein System "eigener Art" darstellt, während man
wohl jeden Integrationsprozess mit dem Attribut "sui generis"
versehen könnte. |
"Die Perspektive der Vereinigung bis
zur Tiefe einer politischen Union zu verfolgen, war zwar
festgeschrieben, aber nicht, wie diese Zielvorstellung zu
erreichen ist" (S. 19-20) |
Das
Schlagwort "Politische Union" war und ist eine Leerformel und
findet Verwendung, gerade weil die Finalität im Unklaren gelassen
werden soll. Es geht also um das "Was" einer "Politischen Union".
Außerdem ist durch die Verwendung der Formel "Politische Union" in
Veträgen und anderen Texten gerade nichts "festgeschrieben". |
"Die Einheitliche Europäische Akte
brachte (die) ... Verwirklichung des Binnenmarktes" (S. 20) |
Mit dieser
ersten großen Vertragsrevision wurde das Binnenmarktprojekt auf
den Weg gebracht, verwirklicht ist er bis heute nicht. |
"'Politische Tauschgeschäfte'
zwischen den Regierungen, 'Paketlösungen' ... dominieren die
Entscheidungsfindung" (S. 20) |
Diese
Darstellung ist zu undifferenziert. Die Aussage gilt im besten
Fall für große, politikfeldübergreifende Weichenstellungen, die
aber eben nur einen Teil - wenn auch den medial sichtbarsten - der
Entscheidungsprozesse im EU-System ausmachen. |
"Dies hat zur Konsequenz, dass die
konstitutionelle Struktur der Europäischen Union, wie sie im
Maastrichter Vertrag entstanden ist, prinzipiell erhalten wird"
(S. 21-22) |
Abgesehen
davon, dass man wohl nicht ohne Anführungszeichen von einer "konstitutionellen
Struktur" der EU schreiben sollte, ist diese sicher nicht in
Maastricht entstanden. |
"Das Regieren in der EU wird dadurch
wesentlich komplizierter, die Legitimation der Problemlösungen,
die eher faule Kompromisse sein könnten, fragwürdig" (S. 24) |
Diese Aussage
bezieht sich auf die in Nizza vorgesehenen Entscheidungsregeln und
Stimmengewichte im Rat. Zurecht wird befürchtet, dass die
Effizienz des Entscheidungssystems unter den strengeren
Anforderungen leiden könnte, warum aber die Legitimation? |
"Die Beitrittsverträge bestätigen
den Beitrittsländern, dass sie die Kopenhagener Kriterien (Beitrittskriterien)
erfüllen" (S. 25) |
Die Erfüllung
der Kopenhagener Kriterien bildet die Voraussetzung dafür, dass
überhaupt Beitrittsverhandlungen mit einem Staat aufgenommen
werden. |
Good Practice
Den beiden aus unterschiedlichen Gründen misslungenen Versuchen des
Wissenstransfers steht der Beitrag von Gotthard Breit gegenüber, der
an der Schnittstelle von Fachwissenschaft und Fachdidaktik anzusiedeln
ist und in überzeugender Weise Anregungen und Hilfestellungen für die
praktische Umsetzung der schwierigen Thematik "Europäische Identität"
vermittelt. [4]
Politische Bildnerinnen werden mit einer Unterrichtsidee versorgt, die
wichtige didaktische Kriterien wie Aktualität oder Exemplarität
erfüllt und die darin besteht, dass die Diskussion um eine "Europäische
Identität" anhand des Beispiels der aktuellen Debatte um den
EU-Beitritt der Türkei behandelt wird. Sie erhalten die notwendigen
Hintergrundinformationen und einen Überblick über die Streitpunkte der
Debatte. Lernziele werden formuliert, und ein umfangreiches Dossier -
bestehend aus Zeitungsartikeln von Wehler, Winkler, Habermas und
anderen - stellt sogar Materialien für den Unterricht zur Verfügung.
Fazit
Die Betrachtung des fachwissenschaftlichen Teils des Sammelbandes
"Europa verstehen lernen" im Rahmen der Diskussion vorhandener Ansätze
der EU-Vermittlung hat ein ambivalentes Bild ergeben. Es hat sich
gezeigt, dass Fachdidaktik und Praktiker bei einem aus
unterschiedlichen Gründen besonders schwierigen Thema wie der
europäischen Integration (»
siehe Abschnitt "Grundprobleme der EU-Vermittlung") überfordert
sein können.
Nur noch Experten, die sich ausschließlich der EU widmen, scheinen in
der Lage, der Diskussion folgen zu können. Andererseits werden diese
Experten häufig dem Anspruch nicht gerecht, ihr Wissen nicht nur für
die scientific community, sondern auch für die Gesellschaft
nutzbar zu machen. Versuche in diese Richtung bilden neben dem
erwähnten Beitrag von Gotthard Breit auch eigene Publikationen zur
EU-Vermittlung in der Praxis. [5]
[Seitenanfang]
Anmerkungen:
[1] |
Joachim Detjen, "Europäische
Unübersichtlichkeiten". Wie soll die politische Bildung mit der
Kompliziertheit und Intransparenz der Europäischen Union umgehen?;
in: Georg Weißeno (Hg.), Europa verstehen lernen. Eine Aufgabe des
Politikunterrichts, Bundeszentrale für politische Bildung
Schriftenreihe Band 423, Bonn 2004, S. 141.
[zurück zum Text]
|
[2] |
Karlheinz Dürr,
Europa im Politikunterricht. Buchbesprechung zu: Georg Weißeno
(Hg.), Europa verstehen lernen. Eine Aufgabe des
Politikunterrichts, Bundeszentrale für politische Bildung
Schriftenreihe Band 423, Bonn 2004; in: Der Bürger im Staat 54. Jg.,
1/2004, S. 77-78.
Vgl. auch Jürgen
Kocka, Vermittlungsschwierigkeiten der Sozialwissenschaften;
in: Aus Politik und Zeitgeschichte 34-35/2005, S. 17-22,
Online-Version. Kocka führt aus: "Viele Sozialwissenschaftler
- besonders wenn sie ausschließlich forschen und nicht
gleichzeitig lehren - sehen sich als Produzenten hoch
spezialisierten sozialwissenschaftlichen Wissens über enge
Teilgebiete, dessen Deutung, Einordnung und Vermittlung über den
disziplinären Kontext hinaus sie gern anderen, nämlich
spezialisierten Vermittlern, überlassen wollen, statt diese
Vermittlung als Teil der eigenen wissenschaftlichen Arbeit zu
begreifen" (S. 22).
Den Versuch einer systematischen Aufarbeitung dieser
Problematik bietet die WZB-Vorlesung von
Friedhelm Neidhart,
Wissenschaft als öffentliche Angelegenheit, Berlin 2002.
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|
[3] |
Alle folgenden Zitate aus:
Alparslan Yenal,
Europäische Integration. Ein problemorientierter Überblick; in:
Georg Weißeno (Hg.), Europa verstehen lernen. Eine Aufgabe des
Politikunterrichts, Bundeszentrale für politische Bildung
Schriftenreihe Band 423, Bonn 2004, S. 18-31.
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|
[4] |
Gotthard Breit,
Was ist "Europa"? "Europa" in der Argumentation für und gegen eine
Aufnahme der Türkei in die Europäische Union; in: Georg Weißeno
(Hg.), Europa verstehen lernen. Eine Aufgabe des
Politikunterrichts, Bundeszentrale für politische Bildung
Schriftenreihe Band 423, Bonn 2004, S. 51-106 (einschließlich
eines Dossiers zum Thema bestehend aus Zeitungsartikeln der Jahre
2002-2003).
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|
[5] |
Ragnar Müller/Wolfgang
Schumann/Christian Rapp, Die Europäische Union verstehen.
Institutionen, Entscheidungsabläufe und Politik nach Nizza, hg. v.
Gesellschaft Agora, Stuttgart 2002.
Ragnar Müller/Wolfgang
Schumann, Die Europäische Union unterrichten. CD-ROM,
Foliensatz, Gruppenpuzzle, Lernspiel und Internetaufgabe, hg. v.
Gesellschaft Agora, Stuttgart 2002.
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