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Grundprobleme der
EU-Vermittlung (III)
Dynamik
Das
seit Mitte der 1980er Jahre fast atemberaubende Tempo, mit dem
sich die EU entwickelt, muss als wichtiger Faktor in Rechnung
gestellt werden, wenn es um die Schwierigkeiten der EU-Vermittlung
geht. Dabei ist natürlich in erster Linie, aber keineswegs
ausschließlich an die großen Vertragsrevisionen (Einheitliche
Europäische Akte, Maastricht, Amsterdam, Nizza), die Gründung der
Währungsunion und die Erweiterung um zehn Staaten zu denken. Auch
unterhalb dieser Schwelle der großen, politikfeldübergreifenden
Weichenstellungen befindet sich das EU-System ständig in Bewegung.
Permanente
Veränderung des EU-Systems
Joachim Detjen benennt die verwirrende Terminologie, die
organisatorisch-institutionelle Unübersichtlichkeit und die
Kompliziertheit der Verfahrensweisen als Ursachen dafür, dass der
Gegenstand Europa im Politikunterricht schwer zu vermitteln sei. Er
führt weiter aus: "Zudem ist vieles in ständigem Fluss begriffen, so
dass der heutige Wissensstand über Europa morgen schon überholt sein
kann." [1]
Die augenfälligsten Beispiele für die Dynamik der Entwicklung sind die
großen Regierungskonferenzen und nachfolgenden
Vertragsrevisionen
(die
jeweilige erste Jahreszahl steht für den Vertragsabschluss, die zweite
für das Inkrafttreten des Vertrags): |
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-
1986/87
Einheitliche Europäische Akte
-
1991/93
Maastrichter Vertrag (Vertrag über die Europäische Union)
-
1997/99
Amsterdamer Vertrag
-
2001/03
Vertrag von Nizza
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Schon allein
diese kleine Übersicht verdeutlicht die Beschleunigung der
EU-Entwicklung: Während zwischen den Gründungsverträgen (Römische
Verträge 1957) und der ersten großen Vertragsrevision rund drei
Jahrzehnte vergingen, erfolgten seither vier große Vertragsrevisionen
in der Hälfte dieser Zeitspanne! Kontinuierlicher verlief die
Entwicklung bei den Erweiterungsrunden:
-
1951/57
Gründung von EGKS bzw. EWG und EAG mit sechs Mitgliedstaaten:
Frankreich, Deutschland, Italien, Belgien, Niederlande und
Luxemburg - EWG-6
-
1973 "Norderweiterung"
um Dänemark, Irland und Vereinigtes Königreich - EG-9
-
1981 "Süderweiterung"
(1) um Griechenland
-
1986 "Süderweiterung"
(2) um Spanien und Portugal - EG-12
-
1995 "EFTA-Erweiterung"
um Finnland, Schweden und Österreich - EU-15
-
2004 "Osterweiterung"
um Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei, Slowenien, Estland,
Lettland und Litauen sowie Erweiterung um Zypern und Malta -
EU-25
Mitgliederbestand
wie grundlegende Spielregeln ändern sich also fortwährend. Dies gilt
umso mehr, wenn man nicht nur die großen Vertragsrevisionen in den
Blick nimmt, sondern auch wichtige Weichenstellungen unterhalb dieser
Ebene berücksichtigt. Zu denken wäre hier beispielsweise an die
Einrichtung der EPZ (Europäische Politische Zusammenarbeit), die
Institutionalisierung der Gipfeltreffen als "Europäischer Rat" oder
die Errichtung des EWS (Europäisches Währungssystem), um drei
Beispiele aus den 1970er Jahren zu nennen, die gemeinhin als eine
Periode der Stagnation in der Entwicklung der Gemeinschaft gelten.
Wie grundlegend sich das EG/EU-Entscheidungssystem seit der Gründung
verändert hat, verrät vor allem ein Blick auf das Europäische
Parlament. Während es zunächst ausschließlich konsultative Befugnisse
wahrnahm, wurde es seit der ersten Direktwahl 1979 schrittweise zu
einem (fast) gleichberechtigten Mitspieler im institutionellen Dreieck
mit Rat und Kommission aufgewertet.
Folgeprobleme für die EU-Vermittlung
Es versteht sich von selbst, dass aus dieser dynamischen Entwicklung
und ständigen Veränderung des EU-Systems bedeutsame praktische,
kognitive und didaktische Probleme resultieren:
-
Schul-
oder Lehrbücher sind oft schon überholt, wenn sie auf den Markt
kommen. Hinzu kommen praktische Probleme bei der Abfassung
solcher Lehrwerke. [2]
-
Lehrerinnen und Multiplikatoren müssten sich permanent
weiterbilden, um mit der Entwicklung Schritt halten zu können.
Wenn man dann noch in Rechnung stellt, dass Lehrer diesen
Aufwand für einen Bereich treiben müssten, der nur einen
geringen Teil der Lehrpläne abdeckt, wird deutlich, dass
fachdidaktische Neuansätze in Richtung einer "europazentrierten
Politikdidaktik" [3] nicht ausreichen, um den
Vermittlungsproblemen wirkungsvoll zu begegnen.
-
Die
Dynamik der EU-Entwicklung zählt weiterhin zu den zentralen
Ursachen für die Defizite in der Wissensvermittlungskette von
der Fachwissenschaft über die Fachdidaktik zu den politischen
Bildnerinnen, die an anderer Stelle im Rahmen dieser Arbeit zur
Sprache kommen (»
zum entsprechenden
Abschnitt). Welcher Vertreter der Fachdidaktik vermag der
ausufernden Europadebatte in der Politikwissenschaft zu folgen,
mit der selbst die Europaexperten ob ihrer schieren Quantität
zunehmend überfordert sind? [4]
Außerdem ist
natürlich das Zusammenspiel des Faktors "Dynamik" mit den anderen
Grundproblemen der EU-Vermittlung, wie sie im Rahmen dieses Abschnitts
entlang von sechs Kategorien dargestellt werden, in Rechnung zu
stellen. So verschärft die ständige Veränderung des Systems etwa das
Problem der Komplexität erheblich (»
zum Abschnitt "Komplexität als Grundproblem
der EU-Vermittlung").
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Anmerkungen:
[1] |
Joachim Detjen,
"Europäische Unübersichtlichkeiten". Wie soll die poltitische
Bildung mit der Kompliziertheit und Intransparenz der Europäischen
Union umgehen?; in: Georg Weißeno (Hg.), Europa verstehen lernen.
Eine Aufgabe des Politikunterrichts, Bundeszentrale für politische
Bildung Schriftenreihe Band 423, Bonn 2004, S. 127.
Im weiteren Verlauf seiner Argumentation führt Detjen aus:
"Die Europäische Union ist immer auf dem Weg irgendwohin,
wobei die Richtung durchaus wechseln kann ... Und so zeigt
sich die EU von einem jahrzehntelangen institutionellen
Wandel gekennzeichnet. Dies unterscheidet sie grundlegend
von den Mitgliedstaaten, in denen die Institutionen eine
hohe Stabilität aufweisen. Der Wandel hat zu vielfältigen
Spannungen, Brüchen und auch Pathologien in der
Kompetenzenordnung der Union geführt." (S. 130)
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[2] |
Hier spreche ich aus eigener (leidvoller) Erfahrung,
beispielsweise mit der Entwicklung und Aktualisierung der
CD-ROM "Die Europäische Union verstehen" (Ragnar Müller/Wolfgang
Schumann/Christian Rapp, Die Europäische Union verstehen.
Institutionen, Entscheidungsabläufe und Politik nach Nizza, hg. v.
Gesellschaft Agora, Stuttgart 2002). Wie nämlich soll man das
Problem angehen, dass Verträge (in diesem Fall der Vertrag
von Nizza) bereits abgeschlossen wurden, aber noch nicht in
Kraft getreten sind (und vielleicht auch nicht in Kraft
treten werden). Streng genommen müsste man jede Aussage zur
institutionellen Struktur aus der Perspektive "vor Nizza"
und "nach Nizza" darstellen. Vollends chaotisch wird es,
wenn man den Anspruch einzulösen versucht, die jeweils
gültigen Vertragsgrundlagen genau zu benennen und die
Aussagen mit dem jeweils zugrundeliegenden Vertragsartikel
zu verlinken.
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[3] |
Georg Weißeno,
Konturen einer europazentrierten Politikdidaktik -
Europäische Zusammenhänge verstehen lernen; in: ders. (Hg.), Europa verstehen lernen.
Eine Aufgabe des Politikunterrichts, Bundeszentrale für politische
Bildung Schriftenreihe Band 423, Bonn 2004, S. 108-125.
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[4] |
Zur Illustration dieses Aspekts mag ein Beispiel genügen,
das dem einleitenden Aufsatz des Sammelbandes "Europa
verstehen lernen" entnommen ist (Georg
Weißeno,
Einleitung; in: ders. (Hg.), Europa verstehen lernen.
Eine Aufgabe des Politikunterrichts, Bundeszentrale für politische
Bildung Schriftenreihe Band 423, Bonn 2004, S. 11-12). Hier ist zu
lesen: "Möglicherweise gerät die Handlungsfähigkeit der
Politik durch die funktionalen Differenzierungen zunehmend
in Legitimationsnöte." Dieser Satz nimmt drei zentrale
Themen oder Schlagworte der politikwissenschaftlichen
Europadebatte auf, nämlich erstens das Problem der Effizienz
oder Handlungsfähigkeit, das in einem grundlegenden
Spannungsverhältnis steht zu den Erfordernissen der
Demokratie bzw. Legitimation (in diesem Fall v.a. der input-Legitimation).
Zweitens wird auf "funktionale Differenzierung" verwiesen,
und das in der etwas ungewöhnlichen Pluralform. Drittens
wird das Problem mangelnder Legitimation angesprochen. Diese
drei Themenfelder werden nun in einer Art und Weise im
Rahmen eines Satzes verbunden, die deutlich macht, dass sich
der Autor über den Bedeutungsgehalt der Schlagworte nicht im
Klaren ist. Es gerät nämlich nicht die Handlungsfähigkeit
der Politik in Legitimationsnöte, schon gar nicht durch die
ausgeprägte funktionale Differenzierung des EU-Systems.
Vielmehr gerät das EU-System dann in Legitimationsnöte, wenn
keine angemessene Handlungsfähigkeit vorhanden ist, weil das
eine Abnahme der output-Legitimation zur Folge hätte. Wenn
uns der Autor weiter unten auf derselben Seite mit dem Satz
"Der Gegenstand Europäische Union ist aber auch nicht
abstrakter und komplexer als andere" (S. 12) Mut machen
will, dann wirkt das wenig überzeugend.
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