Dissertation   Wie kann man komplexe Themen wie Globalisierung oder europäische Integration vermitteln?

 

 

(» Ragnar Müller)

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 Grundprobleme der EU-Vermittlung (III)  

 Dynamik

Das seit Mitte der 1980er Jahre fast atemberaubende Tempo, mit dem sich die EU entwickelt, muss als wichtiger Faktor in Rechnung gestellt werden, wenn es um die Schwierigkeiten der EU-Vermittlung geht. Dabei ist natürlich in erster Linie, aber keineswegs ausschließlich an die großen Vertragsrevisionen (Einheitliche Europäische Akte, Maastricht, Amsterdam, Nizza), die Gründung der Währungsunion und die Erweiterung um zehn Staaten zu denken. Auch unterhalb dieser Schwelle der großen, politikfeldübergreifenden Weichenstellungen befindet sich das EU-System ständig in Bewegung.

 Permanente Veränderung des EU-Systems

Joachim Detjen benennt die verwirrende Terminologie, die organisatorisch-institutionelle Unübersichtlichkeit und die Kompliziertheit der Verfahrensweisen als Ursachen dafür, dass der Gegenstand Europa im Politikunterricht schwer zu vermitteln sei. Er führt weiter aus: "Zudem ist vieles in ständigem Fluss begriffen, so dass der heutige Wissensstand über Europa morgen schon überholt sein kann." [1]

Die augenfälligsten Beispiele für die Dynamik der Entwicklung sind die großen Regierungskonferenzen und nachfolgenden Vertragsrevisionen (die jeweilige erste Jahreszahl steht für den Vertragsabschluss, die zweite für das Inkrafttreten des Vertrags):

Probleme der Vermittlung von Globalisierung:

» Einleitung

» Nationalstaats-Fixierung
» Distanz
» Dynamik
» Legenden
» Komplexität
» fehlende Referenzebene


Probleme der EU-Vermittlung:

» Einleitung

» Nationalstaats-Fixierung
» Distanz
» Dynamik
» Legenden
» Komplexität
» fehlende Referenzebene
 

 
  • 1986/87 Einheitliche Europäische Akte

  • 1991/93 Maastrichter Vertrag (Vertrag über die Europäische Union)

  • 1997/99 Amsterdamer Vertrag

  • 2001/03 Vertrag von Nizza

Schon allein diese kleine Übersicht verdeutlicht die Beschleunigung der EU-Entwicklung: Während zwischen den Gründungsverträgen (Römische Verträge 1957) und der ersten großen Vertragsrevision rund drei Jahrzehnte vergingen, erfolgten seither vier große Vertragsrevisionen in der Hälfte dieser Zeitspanne! Kontinuierlicher verlief die Entwicklung bei den Erweiterungsrunden:

  • 1951/57 Gründung von EGKS bzw. EWG und EAG mit sechs Mitgliedstaaten: Frankreich, Deutschland, Italien, Belgien, Niederlande und Luxemburg - EWG-6

  • 1973 "Norderweiterung" um Dänemark, Irland und Vereinigtes Königreich - EG-9

  • 1981 "Süderweiterung" (1) um Griechenland

  • 1986 "Süderweiterung" (2) um Spanien und Portugal - EG-12

  • 1995 "EFTA-Erweiterung" um Finnland, Schweden und Österreich - EU-15

  • 2004 "Osterweiterung" um Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei, Slowenien, Estland, Lettland und Litauen sowie Erweiterung um Zypern und Malta - EU-25

Mitgliederbestand wie grundlegende Spielregeln ändern sich also fortwährend. Dies gilt umso mehr, wenn man nicht nur die großen Vertragsrevisionen in den Blick nimmt, sondern auch wichtige Weichenstellungen unterhalb dieser Ebene berücksichtigt. Zu denken wäre hier beispielsweise an die Einrichtung der EPZ (Europäische Politische Zusammenarbeit), die Institutionalisierung der Gipfeltreffen als "Europäischer Rat" oder die Errichtung des EWS (Europäisches Währungssystem), um drei Beispiele aus den 1970er Jahren zu nennen, die gemeinhin als eine Periode der Stagnation in der Entwicklung der Gemeinschaft gelten.

Wie grundlegend sich das EG/EU-Entscheidungssystem seit der Gründung verändert hat, verrät vor allem ein Blick auf das Europäische Parlament. Während es zunächst ausschließlich konsultative Befugnisse wahrnahm, wurde es seit der ersten Direktwahl 1979 schrittweise zu einem (fast) gleichberechtigten Mitspieler im institutionellen Dreieck mit Rat und Kommission aufgewertet.

 Folgeprobleme für die EU-Vermittlung

Es versteht sich von selbst, dass aus dieser dynamischen Entwicklung und ständigen Veränderung des EU-Systems bedeutsame praktische, kognitive und didaktische Probleme resultieren:

  • Schul- oder Lehrbücher sind oft schon überholt, wenn sie auf den Markt kommen. Hinzu kommen praktische Probleme bei der Abfassung solcher Lehrwerke. [2]
     

  • Lehrerinnen und Multiplikatoren müssten sich permanent weiterbilden, um mit der Entwicklung Schritt halten zu können. Wenn man dann noch in Rechnung stellt, dass Lehrer diesen Aufwand für einen Bereich treiben müssten, der nur einen geringen Teil der Lehrpläne abdeckt, wird deutlich, dass fachdidaktische Neuansätze in Richtung einer "europazentrierten Politikdidaktik" [3] nicht ausreichen, um den Vermittlungsproblemen wirkungsvoll zu begegnen.
     

  • Die Dynamik der EU-Entwicklung zählt weiterhin zu den zentralen Ursachen für die Defizite in der Wissensvermittlungskette von der Fachwissenschaft über die Fachdidaktik zu den politischen Bildnerinnen, die an anderer Stelle im Rahmen dieser Arbeit zur Sprache kommen (» zum entsprechenden Abschnitt). Welcher Vertreter der Fachdidaktik vermag der ausufernden Europadebatte in der Politikwissenschaft zu folgen, mit der selbst die Europaexperten ob ihrer schieren Quantität zunehmend überfordert sind? [4]

Außerdem ist natürlich das Zusammenspiel des Faktors "Dynamik" mit den anderen Grundproblemen der EU-Vermittlung, wie sie im Rahmen dieses Abschnitts entlang von sechs Kategorien dargestellt werden, in Rechnung zu stellen. So verschärft die ständige Veränderung des Systems etwa das Problem der Komplexität erheblich (» zum Abschnitt "Komplexität als Grundproblem der EU-Vermittlung").

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Anmerkungen:
 

[1]

Joachim Detjen, "Europäische Unübersichtlichkeiten". Wie soll die poltitische Bildung mit der Kompliziertheit und Intransparenz der Europäischen Union umgehen?; in: Georg Weißeno (Hg.), Europa verstehen lernen. Eine Aufgabe des Politikunterrichts, Bundeszentrale für politische Bildung Schriftenreihe Band 423, Bonn 2004, S. 127.
Im weiteren Verlauf seiner Argumentation führt Detjen aus: "Die Europäische Union ist immer auf dem Weg irgendwohin, wobei die Richtung durchaus wechseln kann ... Und so zeigt sich die EU von einem jahrzehntelangen institutionellen Wandel gekennzeichnet. Dies unterscheidet sie grundlegend von den Mitgliedstaaten, in denen die Institutionen eine hohe Stabilität aufweisen. Der Wandel hat zu vielfältigen Spannungen, Brüchen und auch Pathologien in der Kompetenzenordnung der Union geführt." (S. 130)
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[2]

Hier spreche ich aus eigener (leidvoller) Erfahrung, beispielsweise mit der Entwicklung und Aktualisierung der CD-ROM "Die Europäische Union verstehen" (Ragnar Müller/Wolfgang Schumann/Christian Rapp, Die Europäische Union verstehen. Institutionen, Entscheidungsabläufe und Politik nach Nizza, hg. v. Gesellschaft Agora, Stuttgart 2002). Wie nämlich soll man das Problem angehen, dass Verträge (in diesem Fall der Vertrag von Nizza) bereits abgeschlossen wurden, aber noch nicht in Kraft getreten sind (und vielleicht auch nicht in Kraft treten werden). Streng genommen müsste man jede Aussage zur institutionellen Struktur aus der Perspektive "vor Nizza" und "nach Nizza" darstellen. Vollends chaotisch wird es, wenn man den Anspruch einzulösen versucht, die jeweils gültigen Vertragsgrundlagen genau zu benennen und die Aussagen mit dem jeweils zugrundeliegenden Vertragsartikel zu verlinken.
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[3]

Georg Weißeno, Konturen einer europazentrierten Politikdidaktik - Europäische Zusammenhänge verstehen lernen; in: ders. (Hg.), Europa verstehen lernen. Eine Aufgabe des Politikunterrichts, Bundeszentrale für politische Bildung Schriftenreihe Band 423, Bonn 2004, S. 108-125.
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[4]

Zur Illustration dieses Aspekts mag ein Beispiel genügen, das dem einleitenden Aufsatz des Sammelbandes "Europa verstehen lernen" entnommen ist (Georg Weißeno, Einleitung; in: ders. (Hg.), Europa verstehen lernen. Eine Aufgabe des Politikunterrichts, Bundeszentrale für politische Bildung Schriftenreihe Band 423, Bonn 2004, S. 11-12). Hier ist zu lesen: "Möglicherweise gerät die Handlungsfähigkeit der Politik durch die funktionalen Differenzierungen zunehmend in Legitimationsnöte." Dieser Satz nimmt drei zentrale Themen oder Schlagworte der politikwissenschaftlichen Europadebatte auf, nämlich erstens das Problem der Effizienz oder Handlungsfähigkeit, das in einem grundlegenden Spannungsverhältnis steht zu den Erfordernissen der Demokratie bzw. Legitimation (in diesem Fall v.a. der input-Legitimation). Zweitens wird auf "funktionale Differenzierung" verwiesen, und das in der etwas ungewöhnlichen Pluralform. Drittens wird das Problem mangelnder Legitimation angesprochen. Diese drei Themenfelder werden nun in einer Art und Weise im Rahmen eines Satzes verbunden, die deutlich macht, dass sich der Autor über den Bedeutungsgehalt der Schlagworte nicht im Klaren ist. Es gerät nämlich nicht die Handlungsfähigkeit der Politik in Legitimationsnöte, schon gar nicht durch die ausgeprägte funktionale Differenzierung des EU-Systems. Vielmehr gerät das EU-System dann in Legitimationsnöte, wenn keine angemessene Handlungsfähigkeit vorhanden ist, weil das eine Abnahme der output-Legitimation zur Folge hätte. Wenn uns der Autor weiter unten auf derselben Seite mit dem Satz "Der Gegenstand Europäische Union ist aber auch nicht abstrakter und komplexer als andere" (S. 12) Mut machen will, dann wirkt das wenig überzeugend.
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